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Lesungen in Pflegeheimen

Der schwarze Vogel  Autorin Pi / Waltraud Meckel, Nachdruck verboten

Kapitel 1, Das Haus in der Ludwigstraße Nummer 5

         

      Die Ludwigstraße in Offenbach liegt in der Altstadt. Im Jahr 1956 lagen, wie überall in der Stadt, noch viele Häuser in Trümmer.  Das Einerlei der Tage kam ins Schwanken, als es eine Veränderung in der Ludwigstraße Nummer 5 gab. Das war, als Mutter Elisabetha ihren Wohnsitz ins Jenseits verlegte. Sie war die Mutter des Herrn Y, dem Kioskbesitzer, der im gleichen Haus wohnte und nun den Kiosk komplett betreiben musste.

        Zuvor konnten beide Familien gut von den Einnahmen leben. Es waren immer Kunden in dem Laden.  Am Wochenende kamen die Stammkunden mit ihrem ausgefüllten Lottoschein und hofften von Woche zu Woche auf das große Los. Sie kamen aber selten über 3 richtig getippte Zahlen hinaus. Die meisten Kunden tippten immer und immer wieder die gleichen Zahlen aus Angst, ihre Zahlen würden gerade an dem Tag kommen, an dem sie es einmal mit neuen Zahlen versucht hätten.

     War Monatsanfang, dann kamen die ersten eiligen Kunden, kauften frühmorgens die Monatskarte, griffen nach einer Zeitung, und Herr Y legte automatisch die Marlboro Zigaretten, die der Kunde schon immer raucht, automatisch dazu und rechnete ab. Der nächste Kunde bitte.

War die erste Stoßzeit vorüber, kamen die Kunden, die viel Zeit hatten, auch für ein Schwätzchen. Herr Y musste sich oft dieselben Geschichten anhören. Habt ihr schon davon gehört, dass die Müllers Zwillinge haben? Ja… und die Ilse aus dem neuen Hochhaus, die soll mit einem Amerikaner verlobt sein. Die wird sicher nach Amerika auswandern. Aber mit Sicherheit wird niemand sie hier vermissen, denn geschafft hat die doch nix.

         Bis zum Mittag war Herr Y total erschöpft. Er hatte bis jetzt schon so viel Neues erfahren, dass er eine komplette Zeitung hätte schreiben können.

         Wie schon gesagt, das alles geschah so in etwa um das Jahr 1956. Viele Kunden sprachen von früher. Wenn man ihnen glauben durfte, war früher alles besser und alles schöner. Sie erzählten von den Seidenstrümpfen, und dass sie mühsam die Laufmaschen hochgehäkelt hätten. Andere erzählten von einem Pullover, den sie gerade stricken würden. Manche schwärmten vom Lochmuster, andere vom Zopfmuster. In einer     Sache aber waren sich alle Frauen einig, nämlich, dass Mohair-Wolle schrecklich kratzen würde.

         Eine Geschichte, die sich Herr Y immer wieder anhören musste, war die Geschichte vom blinden Bruno und einem taubstummen Kunden. Der blinde Bruno stand früher oft hinter der Theke. Er war der Vater von Herrn Y, wurde im Zweiten Weltkrieg verwundet und kam als Blinder in die Heimat zurück. Trotz seiner Erblindung stand er oft im Kiosk hinter der Theke.    Es gab viele Gründe, warum er seine Erblindung für sich behielt. Die Probleme hielten sich in Grenzen. Der blinde Bruno wusste ganz genau, wo alles stand und lag. Er fühlte, welchen Geldschein er in der Hand hielt, kannte den Wert jeder Münze; da konnte ihm niemand etwas vormachen. Doch eines Tages kam ein Taubstummer in den Kiosk und gab dem Blinden hinter der Theke in der Gebärdensprache zu verstehen, er wolle eine Schachtel Zigaretten. Das konnte natürlich nicht funktionieren.

          Der Blinde bat den Kunden um etwas Geduld, holte seine Frau aus der Küche und die missliche Lage konnte geklärt werden. Beide waren sie Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg, tauschten ihre Erlebnisse aus und wurden Freunde.

Die Zeit verging…

        Herr Y wurde ein zweites Mal Vater, es war wieder ein Junge. Die kleine Wohnung hinter dem Kiosk wurde ihnen zu eng und sie zogen in ein kleines Haus mit Garten, besonders der Kinder wegen.

         Viel zu schnell vergingen weitere Jahre. Wir kennen das Problem, - dass war schon immer so. Die beiden Jungens gingen inzwischen zur Schule, das Ehepaar Herr und Frau Y hatten sich auseinandergelebt, - eine ganz normale Sache.

         Eines Tages kam Moritz, der ältere, nach Hause und hatte einen kleinen schwarzen Vogel in seinem Schulranzen. Der arme Vogel war aus dem Nest gefallen und wäre mit Sicherheit unter ein Auto gekommen, hätte ihn Moritz nicht gefunden.

         Keine fünf Minuten später hockte das verängstigte Vögelchen zitternd in einem Schuhkarton. Lockte man es mit Futter, reckte es das Köpfchen, sperrte das Schnäbelchen weit auf und schluckte alles hastig hinunter. Die Kinder bewunderten den schönen gelben Rand, der rundherum um den Schnabel zu sehen war. Herr Y klärte seine Söhne auf, dass das bei allen Jungvögeln so sei. Denn dann wüssten Papa- und Mama-Vogel, wo sie das Futter reinlegen müssten.  Der kleine Nimmersatt wuchs und wuchs, er wurde groß und größer und eines Tages war er ein richtiger schwarzer Rabenvogel. Er war aber durch die Aufzucht in der Wohnung kein richtiges wildes Tier geworden. Stattdessen hatte er sich heimlich viele Wörter gemerkt und konnte auch schon etwas reden.

         Frau Y war nicht begeistert von dem neuen Mitbewohner.  Denn überall, wo es ihm passte, legte er ihr ein dunkles Häufchen hin. Ihr Ärger war verständlich. Deshalb öffnete man dem unsauberen Rabenvogel die Terassentür. Die Ausflüge genoss dieser, kehrte aber immer wieder zu seiner Pflegefamilie zurück. Er flog heimlich Frau Y hinterher, weil sie ihn zu oft ausgeschimpft  hatte und entdeckte dabei ihr Geheimnis.

      Kommen wir also wieder zu Herrn und Frau Y zurück. Frau Y hatte einen heimlichen Liebhaber, was der schwarze schlaue Vogel sehr schnell mitbekommen hatte.

Wie wir wissen, liebte der beleidigte Rabe das Frauchen nicht. Das Schlitzohr von schwarzem Vogel berichtete es Herrn Y, der es zunächst gar nicht glauben wollte. Doch der Vogel blieb hartnäckig. Er erzählte ihm immer und immer wieder, wo sich die beiden trafen. Eines Tages ging Herr Y der Sache nach. 

Ende Kapitel 1, Das Haus in der Ludwigstraße Nummer 5

Kapitel 2, Der Rabe heiratet und baut sein Nest im Garten.

 

       Genauso heimlich bauten Jakob und seine Frau Abee ihr Nest. Abee legte nach und nach ein Ei hinein und nachdem vier Eier im Nest lagen, begann sie brav mit dem Brüten. Jakob war ein guter Ehemann. Er wachte des Nachts auf einem Zweig in ihrer Nähe. Er tröstete Frau Abee, wenn sich ein Unwetter über ihrem Nest zusammenballte. Fand er einen dicken Regenwurm, brachte er ihn seiner lieben, brütenden Frau Gemahlin. Plagte sie die Langeweile, denn drei Wochen Brüten sind viele Tage! Dann erzählte Jakob seiner lieben Abee Geschichten von Herrn und Frau Y. Geschichten die nur er kannte. Jakob hatte inzwischen das Auto von Frau Y`s Liebhaber ausfindig gemacht, es war ein roter Sportwagen mit offenem Verdeck. Um Frau Y eins auszuwischen, setzte er bei jeder Gelegenheit ein Häufchen auf den Beifahrersitz.

        Jakob hatte Frau Y noch immer nicht die Fliegenklatsche verziehen, mit der sie ihm oft unbegründet hinterherlief. Jetzt aber tat Jakob Frau Y unrecht. Denn Frau Y betitelte ihn als Schmutzfink, wenn sie wieder einmal ein Häufchen von ihm gefunden hatte. Das geschah oft genug. Viel zu oft. Auch dann noch, als er sich schon viel draußen im Garten aufhielt. 

Eines Tages flog Jakob ganz aufgeregt zum Nest seiner brütendem Frau Abee. Das Unwetter, dass über Frankfurt tobte, hatte den Main überquert und kam auf Offenbach zu. Er kam keine Sekunde zu früh. Denn eine vorangegangene Sturmbö hatte die äußere Tanne entwurzelt. Ein Ast der umstürzenden Tanne riss das Nest von nebenan mit in die Tiefe. Abee hatte sich retten können. Aber genaugenommen half ihr die gleiche Sturmbö, die den Baum entwurzelt hatte, beim Überleben. Der Sturm griff ihr, zugleich mit einem gewaltigen Donner, unter die ausgebreiteten Flügel. Abee hatte sie schützend über ihre vier Eier gelegt gehabt. Die Naturgewalt hob sie mindestens zwei Meter in die Höhe. Es können aber auch mehr gewesen sein. Denn Abee sah von oben, dass ihr Nest mit den Eiern der umstürzenden Tanne hinterherflog. Ihr Baum stand noch an der gleichen Stelle, aber ohne Nest. Auch der Ast, auf dem sie das Nest gebaut hatten, war noch da. Die Tanne rechts außen aber fehlte.

        Erschrocken retteten sich beide Rabenvögel unter ein Brett und warteten das Unwetter ab. Zeitgleich mit den ersten Sonnenstrahlen kamen sie aus ihrem Versteck. Sie suchten umgehend nach ihrem Nest. Frau Abee hatte es nicht wahrhaben wollen, sie hatte es verdrängt. Doch das Nest mit den vier Eiern war nicht mehr in der Tanne. Es lag unter dem umgestürzten Baum. Die Eier lagen zerbrochen, eins hier, das andere dort. Das Eigelb und das Eiweiß hatte der Regen ausgewaschen und war im Boden versickert. Nichts war mehr zu retten.  Traurig flogen sie zum Leonard-Eißner-Park hinüber, setzten sich auf die Buche, auf der sie schon oft gehockt hatten. Es war ihre Buche, ihr Baum, seitdem Jakob sie vorm Absturz gerettet hatte. Damals, als sie aus der Birke gerutscht war.

         Der Sturm hatte auch im Park Schäden angerichtet. Sie verbrachten trotzdem die nächsten Tage hier. Abee, die Rabenfrau, jammerte unaufhörlich: „Meine Eier liegen zerbrochen auf der Erde, die ganze Arbeit war umsonst.“

Jakob wollte sie ablenken und erzählte ihr von Früher. Er konnte sich noch haargenau an alles erinnern. Auch bei ihm war es das Unwetter, dass sein Schicksal bestimmte. Er begann langsam und bedächtig zu erzählen: „Wir waren zu fünft im Nest und je größer wir wurden, desto enger wurde es. Es kam häufig vor, dass wir bei einem Regenschauer ungeschützt im Nest lagen. Unsere Eltern waren ständig auf Futtersuche, wir hatten immer Hunger.

       Einer von uns war etwas größer und stärker, er hatte auch immer seinen Schnabel ganz vorne, wenn frisches Futter kam. Er war ein Egoist. Er wollte auch nicht nass werden, wenn es regnete. Also kroch der fiese Knopf unter uns und hob uns hoch. Er war der Stärkste und nur deshalb konnte er es sich erlauben. Das ging auch lange gut, so lange, bis wir flügge wurden. Aber es wurde immer und immer enger in unserem Nest. Bei dem Geschubse und Gedränge wurde ich eines Tages über den Rand gehoben. Verzweifelt versuchte ich mich mit ein paar Schlägen mit dem Flügel zu halten. Aber ich erreichte das Gegenteil. Ich flatterte auf den Boden. Ich weiß allerdings nicht, ob es gut oder ob es schlecht war. Denn durch mein Flattern landete ich sanft auf dem Boden. Zu meinem Leidwesen ziemlich weit weg von unserem Baum. Ich strampelte hilflos mit meinen Beinen, aber die waren noch nicht zu gebrauchen. Ich weiß nicht wie es schaffte, aber ich landete zitternd unter einem Auto.

       Ich hörte Schritte kommen und wollte schnell noch weiter unter das Auto kriechen. Aber meine Beine gehorchten nicht. Sie waren von der Kälte sticke-stocke-steif. Ich rutschte aus, lag rücklings auf dem kalten Boden, strampelte mit den Beinen in der Luft und merkte, wie meine Sinne schwanden.

      Dann dachte ich, ich träume. Es wurde rundherum um mich mollig warm. Heute weiß ich, dass es Kinderhände waren, die mich aufgehoben hatten. Sie steckten mich in ihren Schulranzen. Da ich eh mit meinem Leben abgeschlossen hatte, war

mir alles egal. Die zwei Schulbuben lachten und schwatzten, schubsten sich manchmal, dann rutschten die Schulbücher in eine andere Ecke und ich musste aufpassen, dass sie mir nicht zu nahekamen. Eine Klingel ertönte, eine Tür fiel ins Schloss, Licht fiel in den geöffneten Schulranzen. Die gleichen warmen Kinderhände hoben mich in die Höhe. Viele Menschen standen plötzlich da. Ich machte die Augen zu und stellte mich tot.“

       Der Rabe Jakob stupste seine junge Frau Abee an, er war beleidigt: „Ich erzähl dir Erlebnisse aus meiner Kindheit und du schläfst dabei ein.“ „Aber nein Jakob“, widersprach sie. „Ich dachte nur, wir sollten uns vielleicht doch nochmal in der Schloßmühlstraße umsehen, vielleicht steht die Tanne mit unserem Nest doch noch und die Eier werden kalt.“ Wortlos flog der Rabe davon. Hoffnungsvoll spreizte Abee ihre Flügel, ließ sich von der Luft tragen und hatte ihn bald eingeholt. Für einen Vogel war es in der Luftlinie, also der gerade und kürzeste Weg, nicht weit vom Leonhard-Eißnert-Park bis in die Schlossmühlstraße. Der Lärm einer Kettensäge versprach nicht Gutes. Sie schraubten sich höher, drehten noch eine Runde über das Haus und den Garten. Jakob war ärgerlich. Das ganze wiederholte Frau Abee noch zweimal. Da zwang Jakob seine Frau zum Umdrehen. Brachte sie zu dem erstbesten Baum und las ihr die Leviten. „Ach, wisst du mein liebstes Abee“, sagte er voller Liebe aber in strengem Ton. „Du hast doch ganz genau gesehen, wie Herr Y die umgestürzte Tanne zersägt hat.

         Ich weiß nicht, ob du es auch gesehen hast, die beiden Buben hatten die Eierschalen und auch die Reste vom Nest aufgehoben und in einen Schuhkarton getan. Danach suchten sie alles ab, weil sie glaubten, wir seien mit abgestürzt und würden irgendwo hilflos darunterliegen. Moritz ist ein guter Junge. Er weinte sogar, obwohl die Knaben eigentlich nicht weinen dürfen.“ Jakob war einen Augenblick still. Machte seinen Hals lang, hielt den Kopf schief. „Horch?!! Hörst du es? Herr und Frau Y haben Zoff!! Komm wir gucken mal was da los ist.“ Das lenkte natürlich Frau Abee von ihrer Trauer ab. Besser hätte es für Jakob gar nicht laufen können. Sie landeten unbemerkt in den stehengebliebenen Tannen und waren dicht genug am Haus, um durch die offene Trassentür einen Blick ins Innere zu werfen. Da lagen mindestens zehn leere Schuhkartons auf dem Boden. Hätte Frau Y sie still und ruhig weggeräumt, die neuen Schuhe wären bei dem vorhandenen Arsenal überhaupt nicht aufgefallen. Spontan wie sie war, schalt Moritz und seinen Bruder Egon tüchtig aus. Die Kinder maulten zurück, das mit Jakob hatte sie ganz durcheinandergebracht. Dann glaubten sie, aus ihrer Sicht nichts falsch gemacht zu haben, sie wollten ja nur Jakob helfen. Doch das Wort Jakob war für Frau Y wie ein rotes Tuch. Ihre Stimme erhob sich und war trotz Kettensäge bis draußen zu hören. Herr Y stellte die Kettensäge ab und ging hinein um zu schlichten.

       Da stand er nun. Perplex und sprachlos. Da lag ein Berg leerer Schuhkartons. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. Die nicht gesagten Worte von Herrn Y schien jeder zu hören. Wir müssen sparen. Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Das Auto ist noch nicht abbezahlt. Die Kinder hätten dringend Schuhe gebraucht, die Jungs sind aus allem rausgewachsen. Herrn Y schwante etwas. In böser Vorahnung ging er ins Schlafzimmer, öffnete den Tresor, der Umschlag mit dem zusammengekratzten Urlaubsgeld fehlte. Herr Y wusste um seinen Jähzorn, er musste sich jetzt schwer beherrschen. Als er an der offenstehenden Küchentür vorbeikommt, stoppt ihn ein merkwürdiger Geruch. Es zog ihn wie ein Magnet zum Backofen. Er öffnete die Bachofentür, da lachte ihn ein Rührkuchen wie aus dem Bilderbuch an. Die beiden Söhne standen hinter ihm. „Mama ist weg. Warten wir auf sie oder können wir den Kuchen schon vorher anschneiden.“ „Deckt den Tisch Kinder, ich stell den Kuchen raus, dann ist er schneller kalt. Und zur Feier des Tages gibt es Sahne dazu.“ Moritz und Egon verstanden die Welt nicht mehr. Erst war ein schweres Unwetter da, dann die umgestürzte Tanne, das kaputte Nest vom Jakob, die vielen leeren Schuhkartons, Mama ist heulend weggefahren und Papa sagt: Zur Feier des Tages.

         „Papa was feiern wir denn?“

Herr Y überlegte kurz. Der Galgenhumor kam ihm zu Hilfe, und zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht. Der gleiche Galgenhumor löste ihm die Zunge. Er wunderte ihn selbst, wie leicht ihm diese Worte aus dem Mund fielen: „Wir hatten heute so viel Glück. Bei dem Unwetter hätte auch ein Blitz in unser Haus einschlagen können. Was hätte wir gemacht, wenn die Tanne auf den Hasenstall gefallen wäre. Jakob und seine Frau sind auch lebend davongekommen. Sie können ein neues Nest bauen. Das Mama mal kurz weggefahren ist, ist auch gut. Dann kann ich ihre überzähligen Schuhe jetzt gleich zum Caritas bringen und es werden sich viele arme Menschen über das Geschenk von ihr freuen.

Das Allerbeste aber ist, dass wir in diesem Jahr nicht in den Urlaub fahren. Vielleicht wäre unser Flugzeug abgestützt? Oder einer von euch wäre krank geworden?

Kapitel 2, Ende.  Der Rabe heiratet und baut sein Nest im Garten.

Kapitel 3 Anfang, Der Rabe erzählt aus seiner Kindheit.


          Auf dem erstbesten Baum ließ sich Jakob nieder und las seiner Frau Abee die Leviten.

         „Ach mein liebstes, kleines, schwarzes Frauchen“, sagte er voller Liebe aber in strengem Ton. „Du hast doch ganz genau gesehen, wie Herr Y die umgestürzte Tanne zersägt hat. Ich weiß nicht, ob du  auch gesehen hast, dass die beiden Buben die Eierschalen und auch die Reste vom Nest aufgehoben und in einen Schuhkarton getan haben. Danach suchten sie alles ab, weil sie glaubten, wir seien mit abgestürzt und würden irgendwo hilflos darunterliegen. Moritz ist ein guter Junge. Er weinte sogar, obwohl die Knaben eigentlich nicht weinen dürfen.“ Jakob war einen Augenblick still. Machte seinen Hals lang, hielt den Kopf schief.

         „Horch?!! Hörst du es? Herr und Frau Y haben Zoff!! Komm wir gucken was da los ist.“ Das lenkte natürlich Frau Abee von ihrer Trauer ab. Besser hätte es für Jakob gar nicht laufen können. Sie landeten unbemerkt in den stehengebliebenen Tannen und waren dicht genug am Haus, um durch die offenstehende Trassentür einen Blick ins Innere zu werfen.

         Da lagen mindestens zehn leere Schuhkartons auf dem Boden. Hätte Frau Y sie still und ruhig weggeräumt, wären die neuen Schuhe  bei dem vorhandenen Arsenal überhaupt nicht aufgefallen. Spontan wie sie war, schalt sie Moritz und seinen Bruder Egon tüchtig aus. Die Kinder maulten zurück, das runtergefallene Nest von Jakob hätte sie ganz durcheinandergebracht. Die Kinder glaubten, aus ihrer Sicht alles richtig gemacht zu haben, sie hätten Jakob retten wollen. Doch das Wort Jakob war für Frau Y wie ein rotes Tuch. Ihre Stimme erhob sich und war trotz Kettensäge bis draußen zu hören. Herr Y stellte die Kettensäge ab und ging hinein um zu schlichten. Da stand er nun. Perplex und sprachlos.

         Da lag ein Berg leerer Schuhkartons. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. Die nichtgesagten Worte von Herrn Y schien jeder zu hören. ‚Wir müssen sparen. Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Das Auto ist noch nicht abbezahlt. Die Kinder hätten dringend Schuhe gebraucht, die Jungs sind aus allem rausgewachsen.‘ Herrn Y schwante etwas. In böser Vorahnung ging er ins Schlafzimmer, öffnete den Tresor, der Umschlag mit dem zusammengekratzten Urlaubsgeld fehlte. Herr Y wusste um seinen Jähzorn, er musste sich jetzt schwer beherrschen. Als er an der offenstehenden Küchentür vorbeikam, stoppte ihn ein merkwürdiger Geruch. Es zog ihn wie ein Magnet zum Backofen hin. Er öffnete die Ofentür, da lachte ihn ein Rührkuchen wie aus dem Bilderbuch an. Die beiden Söhne standen hinter ihm.

         „Mama ist weg. Warten wir auf sie oder können wir den Kuchen schon vorher anschneiden?“

         „Deckt den Tisch Kinder, ich stell den Kuchen raus, dann ist er schneller kalt. Und zur Feier des Tages gibt es Sahne dazu.“ Moritz und Egon verstanden die Welt nicht mehr. Erst war ein schweres Unwetter da, dann die umgestürzte Tanne, das kaputte Nest vom Jakob, die vielen leeren Schuhkartons, Mama ist heulend weggefahren und Papa sagt: Zur Feier des Tages.

          „Papa, was feiern wir denn?“

Herr Y überlegte kurz. Der Galgenhumor kam ihm zu Hilfe, und zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht. Der gleiche Galgenhumor löste ihm die Zunge. Es wunderte ihn selbst, wie leicht ihm diese Worte aus dem Mund fielen:

         „Wir hatten heute so viel Glück. Bei dem Unwetter hätte auch ein Blitz in unser Haus einschlagen können. Was hätten wir gemacht, wenn die Tanne auf den Hasenstall gefallen wäre. Jakob und seine Frau sind auch lebend davongekommen. Sie können ein neues Nest bauen. Das Mama mal kurz weggefahren ist, ist auch gut. Dann kann ich ihre überzähligen Schuhe jetzt gleich zur Caritas bringen. Viele arme Menschen werden sich über das Geschenk von Mama freuen. Das Allerbeste aber ist, dass wir in diesem Jahr nicht in den Urlaub fahren. Vielleicht wäre unser Flugzeug abgestützt? Oder einer von euch wäre krank geworden? Eure Großmutter Elisabetha hat immer gesagt: Es ist alles für etwas gut. Da ist etwas Wahres dran, das weiß ich aus Erfahrung. Erst aber Kaffee trinken, dann helft ihr beim Schuhe einpacken, mir haben für heute die Aufregungen gereicht.“

Jakob stupste seine Frau Abee an und meinte: „Lass uns lieber wegfliegen. Ich möchte die Familie Y so in Erinnerung behalten, wie ich sie kannte.“ Als sie wieder im Leonhard-Eißnert-Park auf ihrer Buche angekommen waren, sagte Abee tapfer:

         „Erzähl weiter Jakob. Eigentlich weiß ich nicht viel von dir. Wir hatten zu schnell geheiratet und hatten nichts von unserer Jugend. Für das Brüten war ich noch viel zu jung, mir fiel das Hocken auf dem Nest wahnsinnig schwer. Erzähl bitte weiter. Ich möchte aber dabei mein Köpfchen unter dem Flügel verstecken. Dann kann ich die Augen schließen und alles, was du mir erzählst, wie in einem Film sehen.“ Jakob nickte. Er war sich aber nicht sicher, ob sie dabei doch einschlafen würde und er seine Kindheitserinnerungen dem Baum erzählt hätte. Dann fiel ihm ein, dass er sie später fragen könnte, was ihr am besten gefallen hätte. Er kam sich sehr schlau vor. Jakob wiederholte sich, er war aus dem Rhythmus gekommen. Also fing da an, wo er glaubte, aufgehört zu haben, nämlich mit dem Schulranzen.

         „Ich hatte solche Angst Abee, die Angst raubte mir fast die Sinne. ich war nahe daran, tot umzufallen, als es um mich herum warm wurde. Es waren wieder zarte Kinderhände. Sie waren ganz zart und vorsichtig. Ich wagte zu blinzeln, das Licht blendete mich, das Herz klopfte wie verrückt. „Er lebt, er lebt“, riefen sie durcheinander. Das erschreckte mich und ich wollte mich wieder totstellen, aber das klappte diesmal nicht. Also versuchte ich es mit Flucht. Auch das ging daneben. Die Beine waren das Laufen nicht gewöhnt und wegfliegen klappte schon gar nicht, ich hatte es noch nicht gelernt. Außerdem waren meine Flügelfedern noch viel zu kurz. Also blieb ich brav in der warmen Hand hocken. Wenn ich aber ehrlich bin, gefiel es mir bei den Menschen besser, als in dem übervollen Nest mit den rabiaten Geschwistern. Ich war der Jüngste und Schwächste im Nest, da schubsten mich die großen Brüder über den Rand.“ Abee hob entsetzt das Köpfchen.

         „Ihr wart zu fünft? Ich habe nur vier Eier gelegt, wir hatten auch nur für vier Kinder das Nest gebaut. Ich habe gehört, dass der Kuckuck manchmal sein Ei in fremde Nester legt, und sie von anderen Vögeln ausbrüten lässt. Eine Unverschämtheit ist das.“ Jakob wusste es natürlich besser:

         „Der Kuckuck legt immer sein Ei in fremde Nester. Dabei geht er ganz raffiniert vor. Er wartet, bis der brütende Vogel vom Nest geflogen ist, legt sein Ei hinein, schnappt sich ein fremdes Ei, trägt es fort und lässt es fallen. Deshalb merkt der betrogene Vogel nicht, dass man ihm ein Kuckucksei hineingelegt hat.“ Frau Abee rief ganz entsetzt: „So ein Scheusal! Das gehört bestraft!“

Der Rabe sah sie mit Besitzerstolz an.

         „Meine Süße,“ säuselte er, „du siehst entzückend aus, wenn du dich aufregst.“ „ Aber es gibt so viele Dinge die sich nicht gehören. Ich habe gehört, der Fuchs würde stehlen. Er würde sich in den Hühnerstall schleichen und die Hühner stehlen. Dabei müsste er aber schwer aufpassen, denn wenn er vom Bauer erwischt wird, schlägt der ihn tot.“ Frau Abee schüttelte sich.

         „So viel will ich gar nicht wissen“, sagte sie und steckte ihr Köpfchen wieder unter den Flügel. Jakob erzählt weiter:

         „Sie holten einen Schuhkarton, drückten das Seidenpapier zurecht, setzt mich hinein. Doch jetzt knurrte mir der Magen. Es waren schon einige Stunden vergangen, seit ich das letzte Essen bekommen hatte. Die Menschen stellten mir in einem Schälchen Hundefutter hin. Ich war es aber gewohnt, dass man es mir in den Schnabel hineinlegt. Hilflos schaute ich sie an und tatsächlich, sie verstanden es. Sie holten eine Pinzette und legten mir Stückchen für Stückchen in mein offenes Schnäbelchen. Es schmeckte nicht so gut wie das, was mir Vogel-Papa und Vogel-Mama gebracht hatten, aber ich wurde satt. Nun schlief ich mich erst einmal so richtig aus.“

Ende Kapitel 3, Der Rabe erzählt aus seiner Kindheit

 

Anfang Kapitel 4, Beide tauschen ihre Kindheitserlebnisse aus

        

          Und weiter ging es: „Die Kinder hatten nach kurzer Zeit das Interesse an mir verloren“ Jakob hatte viel erlebt. Also hatte er auch viel zu erzählen. Er redete und redete, es lief wie am Schnürchen. Er begann: „In den ersten Tagen schlief ich bei Tag und bei Nacht. Ich bemerkte es nicht, aber dabei musste ich größer und stärker geworden sein. Ich beobachtete nur meine Flugfedern, weil ich wusste, nur wenn man fliegen kann, ist man vor Raubtieren sicher. Als ich einmal die Augen aufmachte, dachte ich, ich träume. Da lag doch tatsächlich ein Hund neben meiner Kiste. Ich war zu Tode erschrocken, weil man uns beigebracht hatte, uns vor allen Tieren, die vier Beine haben zu verstecken. Herr Y sah mein Unbehagen. Ein lauter Pfiff von ihm vergrößerte meine Angst. Das Herz raste wie verrückt. Mir war, als würde es gleich aus meinem offenen Schnabel fallen.  Automatisch schloss ich den Schnabel und sicherheitshalber zeitgleich beide Augen. Dabei krallte ich mich ganz dolle am Seidenpapier fest, weil ich dachte, gleich falle ich aus dem Nest. Weil aber außer dem Rascheln vom Seidenpapier nichts passierte, wagte ich doch einen Blick in mein Umfeld und merkte, ich bin ja gar nicht mehr im Nest.  

         Das vierbeinige Tier aber stand auf und lief zu seinem Herrchen. Später erfuhr ich, dass die Ohren für die Hunde sehr wichtig sind. Einmal zum Hören, zum anderen zum Gehorchen. Sie müssen ihrem Herrchen oder Frauchen aufs Wort gehorchen. Weil der Waldi aber so große Schlabberlappen anstatt richtiger Ohren hat, also seine Ohren mit Ohr-Lappen zugedeckt sind, kann er ja gar nicht gut gehorchen. Wer keinen Befehl hört, der kann auch nicht gehorchen. So hat es mir jedenfalls der Dackel später einmal erklärt. Aber ich glaube, das sind faule Ausreden von ihm. Er hört absichtlich nicht hin, wenn sein Herrchen etwas zu ihm sagt. Mit einem Augenzwinkern flüsterte er mir leise ins Ohr: ‚Ich gehorche nicht gerne.‘ Damals hatte ich überhaupt keine Ahnung, wie Menschen und Tiere zusammenleben. Der Mensch gibt Befehle und die Tiere müssen gehorchen. Herr Y sagte, dass wäre ganz einfach.  

         Mit der Zeit wurden der Dackel und ich gute Freunde. Nur wenn es ums Futter ging, waren wir uns nicht einig. Denn wenn Herr Y vom Metzger kam, hatte er immer etwas Feines für uns in der Einkaufstasche. Für mich der leckere Tatar, für den Dackel ein Stückchen Fleischwurst. Der Dackel hätte zu gerne beides gefressen. Der konnte übrigens Unmengen Futter verschlingen. Ich vermute, vom vollgefressenen Bauch wurden mit der Zeit seine Beine ganz krumm.

          Eines Tages, als ich wieder einmal auf seinem Finger saß, nahm mich Herr Y mit nach draußen. Er strecke seine Hand hoch in die Luft und schnickte einmal kräftig mit dem Finger, auf dem ich saß. Ich flatterte wie verrückt und landete in einem nahegelegenen Busch. War das schön! Ich pickte nach Würmchen, die sich auf den Blättern bewegten. Die schmeckten wie die Leckerbissen, die uns Vogel-mama und Vogelpapa in den Schnabel legten. Dabei hüpfte ich vergnügt von Ast zu Ast und landete auf richtiger Erde.

Das war ein ganz neues Gefühl für mich. Viel, viel schöner als der glatte Parkettboden, auf dem mir immer die Beine seitlich wegrutschten.“ Als Jakob sich in die Brust warf, den Kopf nach hinten schnickte, um sich ein Lob für seinen ausführlichen Vortrag abzuholen, unterbrach ihn Frau Abee kurzerhand und erzählte Wichtiges aus ihrer Kindheit.

Auch ihre Geschwister hätten nur das Fressen im Kopf gehabt. Aber das Fliegen, das hätten ihnen die Eltern beigebracht. Frau Abee wurde lebhaft. Sie erzählt von ihren Geschwistern und das eine von ihnen trotz aller Warnungen der Eltern einer Katze geradezu ins Maul geflogen sei. In Erinnerung an das schreckliche Geschehen flatterte Frau Abee aufgeregt von einem Ast zum anderen. Jakob schüttelte verständnislos den Kopf:

          „Liebste Abee, aber so ist das Leben nun einmal! Für uns Vögel ist die Zeit, in der wir das Fliegen lernen, voller Gefahren. Später, wenn wir schon richtige Flugkünstler sind, können wir unsere Fressfeinde auch mal so richtig ärgern. Man fliegt ganz dicht an ihrem Maul vorbei, am besten ist es noch, wenn man mit den Flügelenden ihre empfindlichste Stelle, die vordere Spitze vom Maul, erwischt.“ Aber Frau Abee ließ sich nicht lange unterbrechen, zu stark war die Erinnerung an das schreckliche Unglück ihrer Schwester und der Katze, sie fuhr fort:

          „Unsere Mutter sammelte traurig ein paar Federchen von unserer Schwester und legt sie als Andenken in unser Nest. Aber es dauerte nicht lange, da entdeckte sie der Wind. Er schickte eine seiner starken Windböen, zu unserem Baum. Dabei pustete er die zarten Flaumfederchen aus dem Nest, ließ sie höher und höher tanzen, es schien, als wollten auch sie in den Himmel. Dabei wurden sie kleiner und kleiner, verschwanden ganz und wurden nie mehr gesehen.

Als wir gut genug fliegen konnten und auch nicht mehr gefüttert werden mussten, kümmerten sich unsere Vogel-Eltern nicht mehr richtig um uns. Sie reparierten unser kuscheliges Nest, in dem wir lange gewohnt hatten und legten neue Eier hinein. Zuvor hatten sie uns erklärt, dass wir bald erwachsen seien, heiraten dürften und dann selbst für Nachwuchs zu sorgen hätten, das sei unsere Aufgabe auf der Erde.“

         „Das ist doch lachhaft“ sagte Jakob. „So ein Quatsch! Wir beide machen uns jetzt erst einmal ein schönes Leben. Wir gehen auf Reisen und schauen uns die Welt an. Brüten sollen doch die anderen. Meine Geschwister zum Beispiel, die mich aus dem Nest geworfen hatten. Mich haben die doch längst vergessen. Wenn ich damals gestorben wäre, hätte ich auch nicht für Nachwuchs sorgen können. Du musst nicht brüten. Noch eine Nacht, dann machen wir uns auf den Weg. Mich würde aber doch interessieren, was aus meinen Geschwistern geworden ist. Willst du dich auch noch von deiner Familie verabschieden? Ich will es meiner Bagage noch einmal so richtig zeigen. Ich war damals schon sehr schlau, ich habe mich von Kindern finden lassen.“ Abee aber dachte:

         ‚Jetzt übertreibt er. Die Geschichte hatte ich schon einmal gehört, da hatte es etwas anders geklungen.‘ Sie ließ sich aber nichts anmerken. Jakob plusterte sich auf.

         „Die sollen wissen, dass ich der klügste und schönste Rabe weit und breit bin. Und, dass ich die schönste Raben-Frau geheiratet habe.“ 

         Frau Abee wiegelte ab. Ihr war es wichtiger, sich von dem Garten der Familie Y zu verabschieden, anstatt die halb unbekannten Geschwister zu besuchen. Sie flog voran und Jakob, der mit seinen Gedanken schon auf der geplanten großen Reise war, erschrak, als er in einer der Tannen im Garten von Herrn Y wieder zu sich kam. Die Geschwister waren auf einmal unwichtig, die Neugier hatte ihn gepackt. Durch das Erzählen aus seiner Kindheit hatte Jakob das Zeitgefühl verloren. Er konnte nicht mehr mit Gewissheit sagen, ob es Wochen oder nur Tage waren, die zwischen dem Schuhdesaster von Frau Y und dem heuten Tag lagen.

          Jakob war ganz aufgeregt, ein neues Abenteuer bahnte sich an. Er umrundete Haus. Das Auto von Frau Y stand vor der Garage, eine kleine schwarze Trauerfahne aus Tüll hing schlaff am Außenspiegel herunter. Die Fantasie des schwarzen Vogels ging mit ihm durch. Frau Abee musste sich zu ihm setzen und sich anhören, was wohl alles in der Zwischenzeit hatte passieren können. Er habe eine Trauerfahne am Außenspiegel von Frau Y gesehen:

         „Liebe Abee kannst du dich noch daran erinnern, dass Herr Y mit den beiden Kindern bei Kaffee und Kuchen so viel zu feiern hatte? Vielleicht sind Herr Y und die Kinder doch mit dem Flugzeug abgestürzt, und Frau Y trauert.“

         „Aber nein Jakob. Frau Y hatte doch das Urlaubsgeld genommen und die vielen Schuhe davon gekauft. Sie konnten doch gar nicht in den Urlaub fliegen.“

          „Stimmt. Aber irgendetwas muss passiert sein. Wir bleiben hier, bis ich es herausgefunden habe. Wir fliegen Frau Y hinterher, wenn sie in ihr Auto steigt.“ Um die Wartezeit zu verkürzen, inspizierten die beiden Raben den Garten. Dabei kamen sie an den Kaninchen vorbei, die auf dem Rasen unter einem Gestell aus Maschendraht lebten. Jacob schritt wichtigtuerisch um das Gestell herum. Blieb stehen, neigte sein Köpfchen hin und her.“                                                                                    

Ende Kapitel 4, Beide tauschen Kindheitserlebnisse aus

 

 

Anfang Kapitel 5, Die Stadt

        

         Jacob blieb stehen, dann überschlugen sich fast seine Worte:

 „Weißt du liebe Abee, früher hatte ich mir nichts dabei gedacht, wenn ich die Kaninchen unter dem Gitter sah. Ich dachte, das ist halt so. Aber nachdem ich den wütenden Gärtner gesehen hatte, der außer sich vor Zorn den Maschendraht in ihre Ausgänge stopfte, bin ich mir nicht mehr sicher, ob Kaninchen Freunde oder Feinde des Menschen sind.“ Frau Abee dachte nach:

     „Du hast Recht Jakob. Hier werden die Kaninchen mit dem gleichen Maschendraht geschützt, mit dem sie im Garten bekämpft werden. Ich werde auch nicht schlau aus den Menschen.“ Frau Abee reckte sich, drehte das Köpfchen zur Seite. Sie hatte etwas gehört und lief ihrem Jakob hinterher.

         Jakob hatte das Geräusch eines Flugzeuges gestört. Bei seinem Blick nach oben legte sich sein Schwanz flach auf den Rasen und schon stand Frau Abee auf der Schwanzspitze. Noch bevor Jakob protestieren konnte, lachte sie: „Schau Jakob, eilt da nicht Frau Y mit dem Autoschlüssel hinter das Haus? Und ich wette mit dir, sie hat neue Sandalen an!“ Jakob aber hatte nur noch eines im Sinn. Sie mussten aufpassen, dass sie das Auto von Frau Y nicht aus den Augen verloren. Madame fuhr ohne Umweg zu einer Autowerkstatt. Dort stand das ehemals schöne rote Cabriolet ihres Liebhabers. Es hatte rechts außen eine ziemlich große Delle. Sofort ging der Streit zwischen dem Autobesitzer und Frau Y los. Jetzt benahmen sich die beiden überhaupt nicht wie ein Liebespaar. Sie waren sich nicht einig, wie der Schaden hatte zustande kommen können. Frau Y hatte sich das Cabriolet für eine Spritztour ausgeliehen. Sie beteuerte hoch und heilig:

         „Als ich vom Einkauf zurückkam, war die Delle drin.“ Der erboste Autobesitzer wetterte los:

         „Warum hast du nicht umgehend die Polizei gerufen? Jetzt ist es zu spät.“

Frau Y: „Das weiß ich auch, dass es jetzt zu spät ist. Es kann aber nur auf dem Parkplatz passiert sein.“ Er:

          „Wieso kann es nur auf dem Parkplatz passiert sein. Hattest du es beim Ausparken nicht gesehen?“ Frau Y weinte, zeigte auf das schwarze Fähnchen an ihrem Außenspiegel und beschwor noch einmal hoch und heilig, der Andere sei schuld am Unfall gewesen.

         „Unfall?“ Hört der Besitzer des kaputten Autos nur noch,

„Unfall?!“ Er zog die eine Augenbraue hoch und dachte laut:

         ‚Hoffentlich hat das kein Nachspiel. Sie wird doch keine Unfallflucht begangen haben?‘ Der Liebhaber war schon immer ein Künstler im Verdrängen. Wäre er es nämlich nicht, hätte er kein Verhältnis mit einer verheirateten Frau angefangen. Frau Y aber hatte das Gefühl, dass er ihrem Gejammer nicht mehr lange würde widerstehen können. Schutzsuchend lehnte sich wie ein hilfloses Kind an ihn. Zitterte, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. Dabei schluchzte sie ganz erbärmlich, rieb dabei tüchtig die Augen und tatsächlich, es kullerten ein paar Tränen auf seine Hand

          „Seitdem das da passiert ist“, sie deutete theatralisch erst auf die Delle, dann auf das schwarze Fähnchen, „seitdem trag ich Trauer.“

Der geschädigte Liebhaber tröstete sie:

          „Lass es gut sein mein Mädchen. Morgen wird man nichts mehr davon sehen.“ Er drehte die Augen nach oben und dachte: ‚Hoffentlich, hoffentlich geht das gut aus!‘ An Frau Y gewandt:

        „Wir gehen jetzt gleich rüber in den neuen Schuhladen, da suchst du dir was Schönes aus. Ab jetzt aber kein Wort mehr über den Unfall!“ Mit einem Lächeln auf den Lippen und den Bauch voller Zorn reißt er das schwarze Fähnchen mit einem Ruck ab, sah zu, wie es zum Boden segelte, und stellte seinen Fuß darauf. Seinen Unwillen schluckte er tapfer hinunter, schaffte es aber nicht, seinem Kopf das Denken zu verbieten. Denn er war sich sicher, die Geschichte stimmte hinten und vorne nicht. 

‚Warum lasse ich mir das bieten? Sie macht doch einen Narren aus mir. Und ich spiele das ganze Theater mit. Wenn das mal gutgeht.‘

         Frau Y aber zeigte sich überglücklich. Sie konnte wieder lachen. Die zwei Rabenvögel verfolgten das Pärchen bis zum nächsten Schuhgeschäft. Sie hatten in der Innenstadt Probleme beim Warten, es gab hier zu wenig hohe Bäume. Trotzdem konnten sie von einem Dach aus erkennen, dass Frau Y keinen Schuhkarton in der Hand hielt, sie hatte die Schuhe lose in der Hand. Jakob hielt das Köpfchen schief und blinzelte seiner Frau Abee zu als es sagte:

         „Auch Menschen lernen aus ihren Fehlern.“ Das klang zweideutig, aber Frau Abee hielt sich zurück. Jakob breitete seine Flügel aus.

„Komm Abee, jetzt wird es Zeit, dass wir in den Leonhard-Eisner-Park zu meinem Bruder kommen.“ Zum Glück standen genug Bäume an den Straßenrändern, sie ließen sich Zeit. In den kleinen Pausen, die auch zur Orientierung dienten, sinnierten sie über die Menschen. Sie sahen zur Stadt hinüber. Die Hochhäuser sahen aus der Ferne auch nicht mehr beängstigend aus. Nur wenn es nicht anders ging, flogen sie durch unbekannte Häuserfluchten. Sie mieden die unberechenbaren Luftwirbel. 

         Inzwischen war sich das Rabenpaar einig, dass die Menschen ein merkwürdiges Leben führen. Sie wohnen in Käfigen aus Stein, dicht zusammengedrängt, manche hatten sich sogar ihre Nester ganz oben gebaut. Und das, obwohl sie nicht fliegen können. Jakob kam bis heute nicht dahinter, wie sie bis in den 15ten Stock hinaufkommen. Denn dass Menschen ganz oben wohnen, das stand zumindest für Jakob fest. Einmal konnte er ein Stück Fleisch von einem hoch gelegenen Balkon stehlen.

         „Abee warte bitte!“ rief er seiner Frau nach.

         „Das Durcheinander der Straßen hier verwirrt mich total. Als wir so schnell hinter dem Auto von Frau Y in die Stadt flogen, hatte ich nicht auf den Rückweg geachtet. Die Häuser sehen von dieser Seite ganz anders aus. Außerdem scheinen die Straßen planlos kreuz und quer zu verlaufen und alle sind sie einheitlich geteert,“ maulte er. Jakob wollte von Abee nur seine Feststellung bestätigt haben:

          „Sei ehrlich Abee, kannst du dich erinnern? Gab es in der Stadt irgendwo

richtige Erde? Jetzt frage ich dich. Wo nehmen die Stadt-Vögel die Regenwürmer her? “ Frau Abee gabt ihm Recht:

         „Nein“ antwortete sie ehrlich.

         „Ich habe nur zugepflasterten Boden gesehen. Die Bäume in der Stadt sahen richtig krank aus. Manchen sah man an, dass sie unter Durst litten. Außerdem hatten sie dünne Äste, ich bin zweimal abgerutscht. Ihnen fehlt das Licht zwischen den hohen Häusern.“ Jakob gab seinen Senf dazu:

         „Mir tun die Bäume richtig leid, weil sie nicht wegfliegen können.“ Da lachte ihn Frau Abee tüchtig aus.

         „Stell dir vor Jakob, die Bäume würden an dir vorbeifliegen. Wenn du schon die Welt auf den Kopf stellst, dann richtig. Dann würdest du Wurzeln schlagen, wenn du zu lange an einem Ort stehst. Bis in alle Ewigkeit würdest du dort stehen“. Jakob war stinkesauer. Er sinnierte, was hatte er falsch gemacht? Er wollte seiner unerfahrenen Frau etwas beibringen und murmelte vor sich hin:

         „Da nimmt man das unerfahrene Ding mit in die Stadt. Anschließend muss man sich von ihr belehren und letztendlich auch noch auslachen lassen. Ich wollte sie noch wegen des Vorfalls in Y´s Garten zurechtweisen. Auf den Schwanz stellen und so, dass geht nun überhaupt nicht. Droht eine Gefahr, muss man schnell wegfliegen können. Andererseits musste er zugeben, dass seine kleine, liebe Abee vielleicht doch kein Dummerchen mehr ist. Sie war noch nicht ganz erwachsen, als ich sie ehelichte. Sie wird mir zu schnell reif.‘

         Die erste Veränderung merkte er, als sie das bebrütete Nest verloren hatten. Wenn er aber der Herr im Haus bleiben wollte, durfte er sich nicht dauernd eine Blöße geben. Fast schon bereute er die bevorstehende große Reise, denn es schien doch nicht ganz so einfach zu sein, ein bekanntes Gebiet zu verlassen. Schon in der Stadt hatte er bemerkt, dass sie nicht gern gesehen waren, wenn sie auf Futter waren. Auf jeden Krümel, der zu Boden fiel, stürzten sich mindestens 10 hungrige Spatzen. Im Grunde genommen wusste er ganz genau, dass jedes Lebewesen sein abgestecktes Revier hat. Auch bei Menschen schien das so zu sein.

Ende Kapitel 5, Die Stadt

 

Anfang Kapitel 6, Das Bleiberecht

 

         Haben die Menschen ein Haus mit einem Garten, bauen sie sich rundum einen Zaun, manche sogar eine Mauer. Will ein anderer Mensch sie besuchen, muss er anklopfen oder klingeln!

        Jakob war in Gedanken seiner Frau Abee hinterhergeflogen und schaute sich verwirrt um, als er neben ihr in ihrer alten Buche wieder zu sich kam. Er tat gut daran, sich nichts anmerken zu lassen. Denn Jakob brauchte Zeit, viel Zeit. Denn wie konnte es sein, dass seine Frau Abee keinerlei Probleme mit der Orientierung zu haben schien. Immer wieder kam er zu der Erkenntnis, dass es nur durch die Aufzucht in der Wohnung passiert sein konnte. Dadurch fehlten ihm die täglichen Geräusche, die bald aus dieser, bald aus jener Richtung kamen. Von der Kirche das Glockenläuten, das Hupen der Autos, in der Luft die Flugzeuge, nur um einige aufzuzählen. Auch der Sonnenaufgang und Untergang gehörten dazu. Durch die Aufzucht in der Wohnung lernte er von den Menschen zwar einige Worte und ihre Bedeutung kennen, aber auch etwas lesen konnte er. Jakob bildete sich ein, wenn er die Straßennamen lesen kann, würde das für die Orientierung reichen. Das war aber ein großer Irrtum. Die Menschen hatten die Straßen kreuz und quer planlos gebaut. Seine Überlegungen wurden abrupt unterbrochen.

      Erschrocken und ärgerlich versuchte er sich umzudrehen, weil ihm jemand an der Schwanz-Feder gezupft hatte. Das war seine empfindlichste Stelle. Das ging nun ganz und gar nicht. Schon hatte er beide Flügel kampfbereit leicht abgewinkelt, den Schnabel bis zum Anschlag aufgerissen, da glaubte er, seinen großen Bruder zu erkennen. Und tatsächlich, er war es. Das Hallo war groß, der alte Groll vergessen. Im Gegenteil, Jacob war jetzt heilfroh, dass er jemanden in dieser Gegend kannte und dadurch bei der Futtersuche auf dem Heimweg kein Problem bekam. Bei der Unterhaltung stellte Jakob mit Erstaunen fest, dass alle seine Geschwister keine Namen hatten. Andersherum fand sein Bruder das Gehabe mit den Namen sei sehr umständlich. Wenn er etwas von einem Kumpel haben wollte, sagte er immer nur he du! Das tat es auch.

       Frau Abee hielt sich zurück. Sie wollte die Geschwister bei der Wiedersehensfreude nicht stören, obwohl sie Jakobs Freude verwunderte, da er nicht gerade eine gute Meinung von ihnen hatte. Sie verstand ganz gut, dass Jakob auf die Rückkehr in die Schloßmühlstraße drängte. Bei ihm wuchsen die Zweifel an seinem Vorhaben, auf die große Reise zu gehen. Was geschieht, wenn ich wegen meiner schlechten Orientierung nicht mehr zurückfinde? Er sah ein, es wäre besser, die Tour gemeinsam mit Frau Abee zu planen. So schlau wie er nun einmal war, erklärte er ihr, das sei die verspätete Hochzeitsreise, deshalb dürfe sie sich an der Planung beteiligen.

          Frau Abee kannte ihren Jakob und sein Gehabe inzwischen recht gut. Die Erzählungen aus seiner Jugend hatten ihr die Augen geöffnet, wenn er die gleiche Geschichte mal so, und mal anders erzählte. Auch die Rabenfrauen behalten ihre Erkenntnisse für sich. Was sie denken, bleibt ihr Geheimnis. Die Dämmerung brach herein. Sie fanden es vernünftiger, noch eine Nacht in ihrer Buche im Leonard-Eisnert-Park zu schlafen. Durch einen kurzen, aber heftigen Regenschauer kamen viele Regenwürmer an die Erdoberfläche. Sie schlugen sich die Mägen voll, schliefen deshalb etwas unruhig und zogen mit den ersten Sonnenstrahlen in Richtung Süden. Sie hatten sich vorgenommen, es nicht zu eilig anzugehen und wo es ihnen gefallen würde, Station zu machen.

        Sie kamen nicht weit. Denn im Bieberer Feld gab es so allerlei zu sehen. Pferde standen in einer Koppel. Ein großer Wassertümpel hinderte die Pferde an dieser Stelle, die mitgebrachten Mohrrüben in Empfang zu nehmen. Übrigens stand ein großes Schild am Zaun, Füttern verboten! Doch viele Besucher hielten sich nicht an diese Bitte. Durch falsch verstandene Tierliebe kam immer wieder einmal vor, dass die Pferde Koliken bekamen und der Tierarzt helfen musste.

         Aber weitaus interessanter war das Beobachten einer roten Katze, die gleich nach den ersten Häusern wie angenagelt vor einem Mauseloch saß. Jakob und Abee saßen in einer Birke und waren genauso geduldig wie die Katze. Ab und zu mussten sie kichern, wenn die Maus weit entfernt aus ihrem zweiten Loch kam gemütlich die Roggenkörner fraß, die bei der Ernte liegen geblieben waren. Als die Sonne hoch am Horizont stand und das Feld in der Augustsonne flimmerte, schlich die arme rote Katze unverrichteter Dinge ins Dorf zurück. Sie wird sich jetzt schlafen legen und erst wieder in der Dämmerung zurückkommen, um erneut ihr Glück zu versuchen. Jakob blinzelte seine Frau Abee an und sagte:

         „Bleib hier sitzen, ich versuche etwas.“ Er bereitete seine Flügel aus und ließ sich auf das Feld hinübergleiten, was ihn viel Können abverlangte. Rabenvögel sind nämlich keine Gleitvögel, aber bei diesem Vorhaben musste er leise vorgehen. Er ließ sich vor dem geheimen hinteren Ausgang der Feldmaus nieder. Breitete seine Flügel weit aus und hielt es trotz der prallen Sonne eine geschlagene halbe Stunde aus. Der Schatten seiner Flügel bewirkte, dass es im Schlupfloch der Maus kühler wurde. Jakobs Rechnung ging auf, die wagte sich hinaus!!!

       Die nur scheinbar schlaue Maus glaubte zu wissen, dass die Katze nicht vor diesem Ausgang saß. Die Überraschung für die Maus war groß, der kleine Notausgang wurde ihr zur Falle. Der Rabe versperrte ihr den Rückweg mit einem Flügel und in ihrer Panik lief die Maus direkt in seine ausgebreiteten Krallen. Ob bewusst oder nicht, Jakob hatte dem Mäuschen bei dieser Aktion das Genick gebrochen und hing nun schlaff zwischen seinen geschlossenen Fußzehen. Eilig erhob er sich und brachte sie seiner Frau Abee zum Verspeisen. In solchen Momenten schaute sie ihn voller Bewunderung an. ‚Er war doch der klügste Rabe weit und breit.‘

         Sie teilte die Beute mit ihm. Danach suchten sie sich ein schattiges Plätzchen, um erst gegen Abend ihre große Tour fortzusetzen. Es gab aber viel zu beobachten, außerdem hatten sie bei der Futtersuche getrödelt. Frau Abee meinte außerdem, morgens könne man sich besser an der Sonne orientieren. Also verschoben sie die Reise erneut. Und wieder blieb es bei dem guten Vorsatz.  Denn kurz nach Sonnenaufgang tuckerte der Bieberer Bauer Bachnickles mit seinem Traktor samt Pflug ins Feld, um einen abgeernteten Acker umzupflügen. Der Name Bachnickles hat eine lange Tradition in Bieber. Ein Vorfahr hieß mit Namen Nikolaus und wohnte am Bieberbach. Durch das Abkürzen über mehrere Jahrzehnte und Generationen hinweg war dieses merkwürdige Wort entstanden.

        Der Bachnickles pflügte Bahn auf, Bahn ab. Die Raben liefen dem Pflug hinterher. So einen reich gedeckten Frühstückstisch durfte man sich nicht entgehen lassen. Der Bauer ließ die Rabenvögel gerne gewähren. Seiner Meinung nach waren sie stille, aber treue Helfer bei der natürlichen Reduzierung vom Ungeziefer. Es war ihm auch recht, wenn sie die, bei der Ernte liegengebliebenen Körner auffraßen. Dadurch wurde die unerwünschte Keimung vom Korn vermieden, die sonst das Gedeihen der Nachfrucht gestört hätte. Dieser Bauer war nicht nur ein Bauer, er war auch ein Naturfreund. Er ließ am Feldrand die Mohnblumen, Konraden und Margariten stehen, damit die selten gewordene Feldlärche und andere Tiere genug Wildsamen für ihre Nahrung finden konnten. Auch die Gräser am Wegrand ließ er stehen, weil ihre Samen im Winter, wenn Schnee lag, immer noch etwas herausragten und zur gesunden Ernährung beitrugen. Müde und zufrieden kehrten Jakob und seine Frau Abee zu ihrer Birke im halb verwilderten Garten zurück. Sie beschlossen, doch noch eine Weile im Bieberer Feld zu verbringen. Es gab genügend Futter und reichlich Abwechslung.

         Erst jetzt betrachteten sie ihr Umfeld etwas genauer und stellten fest, dass sie in einem eingezäunten Garten untergekommen waren. Der Garten war rundum mit Hecken eingezäunt, ein Paradies für Spatzen und andere Kleinvögel. Unter der Hecke hatten sich Kaninchen ihre Gänge gebaut. Jakob wusste von Herrn Y, dass die Kaninchen, hauptsächlich bei Gärtnern, nicht beliebt waren. Sie hätten das gleiche Gemüse auf ihrem Speiseplan wie die Menschen. Die Kaninchen würden aber auch ungeniert die aufgegangenen Sämlinge fressen. Dass die Kaninchen die aufgegangene Saat fressen ist eine große Dummheit von ihnen.

Ende Kapitel 6, Das Bleiberecht

 

 

Anfang Kapitel 7, Im Bieberer Feld   

 

        Dass die Kaninchen die aufgegangene Saat fressen ist eine große Dummheit von ihnen. Denn erst wenn die Pflanzen ausgewachsen sind, hat man etwas davon. Das ist bei den Mohrrüben besonders stark ausgeprägt, weil man bei ihnen über der Erde nicht erkennen kann, wie dick die Rübe in der Erde ist.

        Der stolze Jakob zu seiner Frau Abee: „Die Menschen glauben, dass alle Tiere dumm sind. Bei den Kaninchen scheint das wohl zu stimmen.“ Es war Sommer und die Sonne ging sehr spät unter. In der Dämmerung kam der Gärtner mit dem Fahrrad heraus, um zu gießen. Doch kaum hatte er das Schloss von innen eingehängt und die Fressschäden an seinem Gemüse entdeckt, fing er das Fluchen an. ‚Euch geb‘ ich’s‘, fielen zornige Worte aus seinem Mund. Er holte das von Schnecken gefürchtete, blaue Schneckenkorn aus seiner Hütte und verteilte die Körner gewissenhaft im ganzen Garten. Als zweite Arbeit stopfte er in die Kaninchengänge Reste vom Hasendraht. Es war ein mühsames Unterfangen, denn die Kaninchen hatten sich tagsüber ausgeruht und hatten nullkommanichts neue Ein- und Ausgänge geschaffen. Kaum war der Gartenbesitzer gegangen, kamen die ersten Schnecken zum Vorschein. Noch bevor die Schnecken an die blauen Körner gelangen konnten, bedienten sich Jakob und seine Frau Abee und es gab frische Schnecken zum Nachtisch. Zufrieden und gesättigt suchten sie sich für die Nacht einen geschützten Platz und schliefen glücklich und zufrieden ein. Hin und wieder wurden sie von fremden Geräuschen geweckt.

         Ich glaube, so langsam lernen wir den schwarzen Vogel, den Jakob, besser kennen. Er ist schon ein merkwürdiger Kerl. Das kam, weil er von Menschenhand aufgezogen wurde. Dabei ging so manches verloren, was fürs Überleben wichtig ist, was ihm in der freien Natur seine Rabeneltern beigebracht hätten. So gibt es  ein ungeschriebenes Gesetz, dass alles, was grünt und blüht, auch jedes Lebewesen auf der Welt für Nachwuchs zu sorgen hat. Was aber tat der Rabe Jakob?  Er hielt sich nicht an das Gesetz. Für ihn gab es keinen Grund, in der Welt umherziehen, um die Jugend zu genießen. Warum aber war er wankelmütig?

           Zuerst plante er stolz mit viel Trara die große Reise, jetzt aber hatte er Bammel davor. Er musste viel über seinen schlechten Orientierungssinn nachdenken. Aber seine Frau Abee störte nichts an ihrem Herrn Gemahl. Im Gegenteil. Sie war stolz auf ihn, trotz seiner kleinen Fehler und machte alles widerstandslos mit. Sie widersprach auch nicht, als er am anderen Morgen anfing, sein Spiegelbild im Wasser zu studieren. In jeder freien Minute musste seine Frau mit ihm an das Ufer des Bieberbachs fliegen. Er stolzierte hin und her, neigte sein Köpfchen, spielte den Narren und wäre beinah hineingestürzt, als neben ihm das Spiegelbild eines Dackels zu sehen war. Doch nun zur Vorgeschichte.

        Wie schon oft zuvor, hatte sich Frau Abee beizeiten auf den Weg gemacht, um in der Trauerweide, die seit Ewigkeiten dicht am Ufer des Bieberbachs steht, auf ihn zu warten. So auch heute. Dabei beobachtete sie vergnügt sein albernes Gehabe. Ihr war der Affenzirkus, wie sie es nannte, schon immer nicht ganz geheuer. Als sie wieder einmal das Gelände nach etwas Auffälligem absuchte, sah sie gerade noch, wie Herr Y mit seinem Dackel aus dem Wald kam. Frau Abee ahnte nichts Gutes. Denn einem Hund mit seiner feinen Nase entging fast nichts. „Die beiden werden bald hier sein“, dachte Frau Abee. Doch der Trottel von Waldi schien nichts von den Vorgängen am Bieberbach zu bemerken. Die vier krummen, viel zu kurzen Beine des Dackels hielten an jedem Grasbüschel. Sein langer Kopf verschwand darin, brauchte eine gute Weile, bis er die Hundezeitung gelesen hatte.

        Doch plötzlich hob er seinen Kopf senkrecht in die Höhe. Er hatte den Geruch von seinem Freund Jakob, dem schwarzen Raben in der Nase. Mit einem Tempo, das keiner bei ihm für möglich gehalten hätte, stürmte er von null auf 100 kommend auf den Bieberbach zu. Seine langen Schlabberohren flatterten, als wollten sie zurückbleiben. Der Schreck hatte Frau Abee gelähmt. Viel zu spät kam sie zu sich, warnte ihren Herrn Gemahl mit einem lautem Kräääh! Kräääh! Kräääh! Das war der Anfang vom Chaos. Das Echo von ihrem Gezeter schien von überall zurückzukommen. Das Schnattern der aufgeschreckten Enten kam dazu und um das Maß endgültig voll zu machen, warf ein landendes Flugzeug, außer dem üblichen Lärm, seinen Schatten über das Geschehen. Aber oh weh! Oh weh! Alles was hier kreuchte und fleuchte suchte nach einem Versteck.

       Hol´s der Deiwel- -! ´S ist scho passiert. Jakob war abgerutscht. Er konnte sich zum Glück auf einem, bis ins Wasser hineinreichenden Ast retten. Mit ein paar kräftigen Flügelschlägen rettete er sich ans sichere Ufer. Durch sein nasses Gefieder kam er aber nicht schnell genug hoch und erwischte den verdutzten Dackel. Ein einziger, kräftiger Schlag seines linken Flügels auf den Kopf des Hundes reichte, um diesen jaulend in die Flucht zu schlagen. Herr Y waren noch viel zu weit weg, um die Turbulenzen richtig einzuschätzen. Vorsichtshalber pfiff er seinen Hund zurück und war verwundert, wie gehorsam er doch heute war. Für gewöhnlich brauchte es seine Zeit, bis er auf seinen Pfiff reagierte.

       Frau Abee aber konnte sich nicht zurückhalten. Sie lachte sich halb kaputt, während Jakob sich beleidigt im Gebüsch versteckte. Jakob war ein gewiefter Schauspieler, wie alle Männer, wenn sie sich blamiert hatten. Er tat so, als hätte alles seine Richtigkeit. Dabei maulte er mehrmals: „Was für ein dummes Geschwätz! Ich bin weder ins Wasser gefallen noch bin ich geflohen. Ich bin hierhergekommen, um ein Bad zu nehmen. Nicht mehr und nicht weniger, basta!“

     Er schüttelte sich wie selbstverständlich das Wasser aus dem Gefieder, zupfte die Brustfedern zurecht, und legte die noch immer nassen Flügel seitlich an. Ein Bein vor das andere setzend, kam er gemächlich als Held unter dem Busch hervor. Er hatte den Dackel in die Flucht geschlagen, dass soll ihm einer erst mal nachmachen. Weil die Flugfedern aber noch immer zu nass waren, musste er sie erst in Ordnung bringen. Erst danach flog er zu seiner Frau Abee in die Trauerweide und besprach mit ihr die Weiterreise. Er ließ aber durchblicken, dass es ihn nicht mehr am Bieberbach gefallen würde. Das Wasser sei zu nass, das Spiegelbild durch streunende Hunde verzerrt. Er war verstimmt. Noch am gleichen Tag zogen sie weiter in Richtung Heusenstamm. Jakob beruhigte sich so langsam wieder. Sie fanden im Wald reichlich Futter. Sie sammelten Beeren, sie fraßen Käfer. In einer Lichtung machten sie Rast und versuchten sich im Kunstflug.

      Sie versuchten sanft dahinzugleiten, so, wie sie es bei der Eule vor Wochen gesehen hatten. Dann ließen sie sich fallen, um kurz darauf den Aufwind auszunutzen, um wie in Serpentinen ohne große Kraftanstrengung in die Höhe zu gelangen. Das Alles störte einen Eichelhäher, der in einer Kiefer, die in der Lichtung stand, sein Nest mit vier Jungen untergebracht hatte. Naturgemäß wissen alle Vögel, dass die Raben auch fremde Nestlinge auf ihrer Speisekarte haben. Deshalb trauen sie ihnen auch nicht über den Weg, wie man so schön sagt. Die Eichelhäher-Eltern blieben jetzt abwechselnd bei ihren Jungen, bis diese unverschämten Streuner, wie sie die harmlosen Raben betitelten, weitergezogen waren. Das Rabenpärchen war fremd hier, es war besser, dass man aufpasste, solange sie sich hier herumtrieben. Das wiederum hatte zur Folge, dass nur einer von den Eichelhäher-Eltern auf die Futtersuche gehen konnte. Die Kleinen protestierten lautstark, weil sie nicht satt wurden. Das war für den Nachwuchs sehr gefährlich! Das konnte sowohl die Raben, aber auch andere Raubtiere anlocken, weil sie glaubten, es würde sich ein verlassenes Nest handeln. Das Gezeter der Kleinen war weithin zu hören und brachte Unruhe in das ganze Waldstück. Stinkig geworden warnten nun die Eichelhäher lautstark vor den Eindringlingen. Jeder Waldbewohner hört auf die Eichelhäher, man nennt sie zu Recht die Polizisten des Waldes.

         Das Rabenpärchen aber war enttäuscht, weil keiner ihre Kunstflüge bewunderte. Es war nicht zu übersehen, dass sie hier nicht gern gesehen wurden. Weil mit den Eichelhähern nicht gut Kirschen essen ist, machten sie sich lieber aus dem Staub. In Momenten wie diesen, wenn ihnen die Machtlosigkeit klar wurde und die Unterlegenheit schmerzte, tat es ihm leid, dass er sich so weit von ihrem sicheren Zuhause entfernt hatten. Der Übermut war ihnen vergangenen und so nahm Jakob gerne den Vorschlag seiner Frau Abee an, es sei besser, sich zurückzuziehen, was immer sie damit meinte. Frau Abee löste sich von ihrem Ast und flog davon. Es zog sie nach Hause. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, als müsse sie sich in ein Nest setzen und ein Ei legen.

Ende Kapitel 7, Im Bieberer Feld

 

Anfang Kapitel 8, Die Aufzucht

 

        Sie schlug instinktiv die Richtung nach Bieber ein. Der frustrierte Rabe flog mit Abstand missmutig hinter ihr her.

     Es war später Nachmittag, als sie in der Ferne das Dach der alten Feldscheune erkannten. Jakob fielen gleich drei schwere Steine von seinem Herzen. Er konnte es nicht lassen und machte vor Freude drei Saltos hintereinander. Und dass, obwohl er anfangs nicht begeistert von ihrem Rückzug war. Bieber, sein Bieber ließ er durchblicken. Seine Frau Abee war es zufrieden und steuerte die große Kastanie im Hof der verlassenen Feldscheune an. Es schienen keine Vögel hier im Baum zu wohnen und in Gedanken war sie schon beim Nestbau. Bevor es dunkel wurde, suchten sie den Baum nach einer Mahlzeit ab. Frau Abee, schon halb Mutter, dachte praktisch. Wenn viele Schädlinge im Baum sind, brauchen wir für die Futtersuche nicht weit zu fliegen.

    Leise erhob sie sich, um zum Dachfirst hinüber zu fliegen. Sie wollte den Baum sicherheitshalber aus der Ferne beobachten. Es konnte ja sein, dass doch schon jemand darin wohnen würde. Auf die Spatzen brauchte man keine Rücksicht zu nehmen, sie waren für die Raben keine Gefahr.

       Hoch oben unter dem Dachfirst der halb verfallenen Scheune fand sie eine geeignete Nische. Hier waren sie für die Nacht sicher. Außerdem hatte Frau Abee eine gute Sicht sowohl auf den Baum als auch über den ganzen Hof. Sie verbrachten eine ruhige Nacht.

Fast. Aber wirklich nur fast.

    Denn Frau Abee war überglücklich. Es war ein Zustand, in dem Frauen nicht zurechnungsfähig sind. Sie brachte ihrem Jacob stockend bei, sie wolle brüten. Sie schwor ihm außerdem hoch und heilig, sich nie mehr über Langeweile während des Brutgeschäftes zu beschweren. Jacob hatte vor lauter Erschöpfung und Frust tief und fest geschlafen und erzählte seiner Frau Abee am anderen Morgen von einem wunderschönen Traum. Frau Abee aber wusste es besser. Sein Traum war ihr Geständnis.

        Sie vergeudeten keine Zeit. Kaum war die Sonne aufgegangen, begannen sie mit dem Nestbau. Um die Scheune herum lag genug geeignetes Nistmaterial. Frau Abee durfte sich ein geeignetes Plätzchen in einer Astgabel aussuchen, an dem sie geschützt war und trotzdem rundum nach Feinden Ausschau halten konnte. Nach einer Woche waren sie fertig. Frau Abee wollte eine Nacht im Nest verbringen, um es auf seine Sicherheit zu prüfen.

    Als Jakob sie am frühen Morgen zur Futtersuche abholen wollte, zeigte sie ihm freudestrahlend das erste Ei. Es hatte eine grünliche Farbe und war fein gesprenkelt. Sie zupfte einige wenige Flaumfedern aus ihrer Brust, bedeckte das Kleine Gelege um es vor Feinden zu schützen. Was beide früher für spießig gehalten hatten, nämlich für Nachwuchs zu sorgen, machten ihnen jetzt richtig Spaß. Auch die Einsicht braucht ihre Zeit…

       Der schwarze Rabe Jakob und seine Frau Abee waren glücklich und zu frieden. Zu Hause ist zu Hause meinten nun auch sie, auch wenn es nicht im Garten des Herrn Y war. Dort hätte sie alles an das verlorengegangene erste Gelege erinnert. Frau Abee legte jeden zweiten Tag ein neues Ei ins Nest. Sie genoss den letzten Tag vor dem Brutgeschäft ausgiebig. Sie besuchte alle Stellen, die mit einem schönen Erlebnis verbunden waren, bevor sie sich endgültig zum Brüten in das Nest hockte. Gewissenhaft prüfte sie es noch einmal ausgiebig auf seine Standfestigkeit. Sie war mit allem sehr zufrieden. Wie es bei den Rabenvögeln üblich ist, hatte das Nest eine Form fast wie ein Krug. Es war in drei Reiserschichten gebaut worden, dabei wurden die Zweige sorgfältig miteinander verbunden. Wenn es geregnet hatte, nahmen sie von den Rändern der Pfützen kleine Lehmklümpchen auf. Wie bei einem Fachwerkhaus legten sie die Lehmklumpen zwischen die Zweige und machten so das Nest wind-und-wetterfest. Das Innere dagegen wurde weich ausgepolstert. In der Scheune befand sich genug Heu für die untere Polsterung. Obenauf kamen Federn, Haare und weiche Pflanzenteile, auch Samen des Löwenzahns war dabei.

      Das Brutgeschäft begann. Das frühherbstliche Wetter war ruhig, die Brut verlief ohne Zwischenfälle. Jakob war sehr sorgsam bei der Futtersuche, Frau Abee konnte sich nicht beschweren. Jakob verbrachte jetzt viel Zeit in der Scheune. Das hatte etliche Vorzüge. Zum einen war er schnell bei seiner Frau Abee, zum anderen hat er hier sehr viel Abwechslung.

Zunächst hielt er sich sehr zurück, er beobachtete alles, was sich in der Scheune bewegte.              Unzählige Mäuse schienen hier ihr Wohnrecht zu haben. Er brauchte schon eine ganze Weile, bis er sie unterscheiden konnte. Er fand heraus, dass es sich um etliche Großfamilien handeln musste. Mehrere dieser Großfamilien bildeten eine Sippe, und drei dieser Sippen lagen sich ständig im Clinch. Mit der Zeit konnte er sie auch recht gut an bestimmten Merkmalen unterscheiden. Die einen waren kräftig gebaut, hatten zum Teil defekte Gliedmaßen, was auf Inzucht zurückzuführen war. Eine andere Großfamilie hatte leicht geflecktes Fell und eine dritte erkannte man an ihren weißen Schnurrhaaren und einem weißen Tüpfelchen auf der Nase. Obwohl sie genug Futter hatten, suchten sie dauernd Streit miteinander. Außerdem hatte jede Großfamilie einen Boss. Jede freie Minute verbrachte Jakob damit zu, sie zu beobachten.

          Er spielte Richter. Hatte er wieder einmal einen Unruhestifter ausgemacht, stand er auf seinem Speiseplan. Jakob durfte ihn aber nur draußen im Hof jagen, dass musste er der Eule versprechen. Die Eule hielt sich auch daran, sie meinte, es sei besser, den langen Winter friedlich unter einem Dach zu verbringen. Schließlich käme der Winter jedem Tier hart an. Jakob gab nach, denn die Eule wohnte schon lange hier und besaß das Hausrecht. Sie besiegelten das Abkommen und hielten sich auch daran.

       Hin und wieder kam auch die rote Katze zu Besuch, die Jakob im Frühling beim Mäusefang beobachtet hatte. Sie war dick, träge und ungeschickt beim Mäuse fangen. Sie hielt sich nicht an die Regeln der Eule. Nach einer gewissen Zeit kam Jakob zu der Erkenntnis, die Katze ist stinkfaul. Sie hat es gar nicht nötig, sich Mäuse zum Verspeisen zu holen. Sie ist sicher eine von denen, die vom Metzger das feine Tatar ins Schüsselchen bekommen. Er kannte zu gut dieses wohlschmeckende, rote, rohe Fleisch. Noch heute lief ihm das Wasser im Schnäbelchen zusammen, wenn er nur daran dachte. Er selbst hatte es oft genug von Herrn Y bekommen. Die rote Katze spielte hier nur mit den Mäusen. Lief ihr wieder einmal eine Maus beim Spielen davon, wartete sie geduldig, bis sich das nächste dumme Mäuschen sich zwischen ihren Pfoten verirrte. „Die Dummen sterben nicht aus“ sagte er einmal zur Eule. Die nickte und gab ihm Recht.

        Die Eule war noch immer Junggeselle. Sie war ein Junge und hieß Kauz. Seit drei Jahren wäre er auf der Suche nach einer geeigneten Braut. Er sei aber immer zurückgewiesen worden, er solle bitte schön erst ein festes Revier im Freien und einen geeigneten Nistplatz vorzeigen. Beides sei ihm bisher noch nicht gelungen. Er wäre aber auch nicht der richtige Kämpfer, der sein Revier verteidigen würde. Und dass, obwohl er die Scheune sein Eigen nennen könne. Er brauche aber ein größeres Revier im Freien. Der schlaue Jakob stellte fest, dass jedes Lebewesen in dieser Hinsicht mehr oder weniger ein Problem hätte.

      Er erinnerte sich an einen Ausspruch des Herrn Y: „Jedes Häuschen hat sein Kreuzchen.“ Und da schien etwas dran zu sein. Hatte er wieder einmal etwas Interessantes beobachtet, flog er zu seiner Frau Abee hinüber und erzählte ihr davon. Seit 20 Tagen saß Frau Abee schon auf ihrem Nest, als sie eines Morgens ganz aufgeregt ihren Jakob auf das Klopfen im Ei aufmerksam machte.

        „Hörst du es? Hörst du es? Hoffentlich ist das Kleine stark genug und bekommt das Ei auf.“ Jakob stand auf einem festen Zweig neben dem Nest und wiegte mit seinem Kopf hin und her. Das tat er immer, wenn er etwas überlegen musste. Bedächtig sagte er: „Ich habe noch nie von einem solchen Problem gehört. Noch alle Jungvögel kamen aus ihrem Ei heraus. Wenn sie Hunger haben, müssen sie die Schale aufmachen. Drinnen können Sie ja auch gar nicht wachsen.“ Weil ihm seine eigene Rede mehr als blöd vorkam, wollte er lieber sofort zu seinem großen Bruder im den Leonard-Eisnert-Park.

Ende Kapitel 8, Die Aufzucht

 

Anfang Kapitel 9, Die Aufzucht und der Herbst danach

 

        Und am besten gleich, noch bevor seine Frau seine Unsicherheit, was das Ausschlüpfen der Küken betrifft, bemerken würde und ihn unter Umständen deshalb auslachte. Das Hallo war wie erwartet groß. Jakob fragte wie so nebenbei: „Na was machen deine Kinder? Wie lange brauchten deine Kleinen vom ersten Anklopfen bis sie aus dem Ei herauskamen? Mein erstes Kind hat gerade von innen angeklopft. Wie geht es denn jetzt weiter damit? Wie du weißt, wurde mein erstes Gelege im Sturm zerstört.“

        Jacobs großer Bruder lachte ihn aus: „Flieg schnell nach Hause! Und nimm Futter mit! Du kannst jetzt nicht mehr in der Weltgeschichte herumfliegen. Du wirst in der nächsten Zeit ganz schön beschäftigt sein.“ Jakob tat, was sein Bruder ihm geraten hatte. Mit einem Schnabel voller Leckerbissen kehrte er zu seiner Frau Abee zurück. Diese spreizte den rechten Flügel und zum Vorschein kamen zwei gelb umrandete, weit geöffneten Schnäbelchen. Jakob war derart perplex, er hatte gerade etwas sagen, öffnete dabei seinen Schnabel und das mitgebrachte Futter fiel neben die Kleinen in das Nest. Frau Abee, schon ganz in ihrem Muttergeschäft, nahm die Leckerbissen auf und fütterte ihren ersten Nachwuchs. Die mühsame Aufzucht begann.

        Vier Nestling tummelten sich bald und reckten die geöffneten gelben Schnäbelchen in die Höhe. Er und Abee waren von morgens bis abends damit beschäftigt, ihre Vogelkinder satt zu bekommen. Sie wuchsen, das nackte an ihnen verschwand, Federchen wuchsen und zum Schluss zeigten sich die langen Flügel und Schwanzfedern. Sie fingen mit dem Flattern an, standen nach drei Wochen auf dem Nestrand und stärkten ihre Flugmuskeln. Es dauerte nicht lange, da brauchten sie mehr Platz zum Üben. Da kamen die ersten Zweige gerade recht. Die kleinen Zehen hielten sich fest, flatterten mit den Flügeln, bis sie glaubten, es bis zum nächsten Ast zu schaffen. Es kam Leben in den Baum. Zwei andere Rabenvögel, die Jakob von seinen Ausflügen her kannte, halfen ihnen bei der Aufzucht. Jakob hatte inzwischen erfahren, dass die großen Schwärme, die oft hinter einem Pflug hinterher waren, keine Reviere gefunden hatten und unter sich blieben. So kam es vor, dass manche das Bedürfnis hätten, Kleine zu versorgen. Nach anfänglichem Zögern ließen es Abee und Jakob gerne zu. Auch bei den ersten Ausflügen waren die zwei Helfer nützlich. Wenn die vier Jungvögel bei ihren ersten ungeschickten Ausflügen zu weit auseinander gelandet waren, konnten sie durch die Helfer besser betreut und geschützt werden. Denn das aufsteigen vom Boden bereitete ihnen oft noch Schwierigkeiten. In dieser Zeit war die Bedrohung am größten. Füchse, die in dem näheren Umfeld wohnten, wusste genau, wann ihre Zeit gekommen war. Denn so ein Junge Rabe war ein feiner Leckerbissen nicht nur für sie. Auch Dachse, Wildkatzen und streunende Katzen hatten Jungvögel auf ihrem Speiseplan. Doch Jakob und Frau Abee waren sehr wachsam, sie wollten zumindest ihre zweite Brut großziehen.

          Nach weiteren drei Wochen Schwerstarbeit waren sie fertig. Ihre vier Jungen, die sie mit Liebe und Sorgfalt großzogen hatten, flogen mit den zwei Helfern auf und davon. Frau Abee und Jakob fühlten sich einsam. So langsam erholten sie sich und gewöhnten sie sich wieder an das Alleinsein. Und unterhielten sich in der Dämmerung oft mit der Eule. Am Tag durfte man sie nicht stören, weil sie tagsüber schlief, um in der Nacht auf Nahrungssuche zu gehen. Manchmal flogen Herr Jakob und seine Frau Abee des nachts mit ihr hinaus auf das Feld. Aber die nächtlichen Ausflüge sind nichts für Raben. Die lautlosen Fledermäuse sind ihrer Meinung nach viel zu schnell. Kaum ist ein Schatten da, ein Luftzug, du willst ausweichen, aber da ist nichts mehr. Für die bedächtigen Rabenvögel ist dieser Umgang nicht geheuer.

          Überhaupt schienen in der Nacht ganz andere Tiere zu leben. Tiere und Insekten die sie noch nie gesehen hatten, bewegten sich überall. Manche schien man auch fressen zu können, aber sie wussten nicht so recht wie der eine oder andere Käfer schmecken würde. Einmal hätten sie einen probiert, ihn aber gleich wieder ausgespuckt, weil die Flügel wie Bretter waren seitlich an ihrem Schnabel hängen blieben. Trotz aller interessanter Abenteuer kamen sie immer wieder zu ihren alten, lieben Gewohnheiten zurück. Sie liefen lieber den Bauern auf dem frischgepflückten Acker hinterher. Die Nächte wurden länger, die Tage kürzer. Sie mussten sich auf den Winter einstellen. Die Eule hatte ihnen erlaubt, bei starkem Frost in der Scheune zu übernachten. Sie hatten alles für den kommenden Winter bedacht und ließen sich überraschen. Da die meisten Tiere in den Tag hineinleben und sich keine Sorgen wegen der nächsten Tage machen, fällt auch keine Arbeit an.   

          Die Tage gingen dahin. Herr Jakob und Frau Abee gingen viel spazieren Sie pickten hier, sie pickten dort, sie genossen die erste Zeit nach der schwierigen Aufgabe, Vogel Kinder groß zu ziehen. Als sie sich einigermaßen erholt hatte, fingen sie an, sich für ihr näheres Umfeld zu interessieren. Sie besuchten den Garten in der Nähe des Ortes, um nachzusehen, wie es den Hasen im Sommer ergangen war. Diese Schienen dem Gärtner ein Schnippchen geschlagen zu haben, denn viele junge Hasen wieselten im Garten herum. Der Gärtner schien das Grundstück verlassen zu haben, er hatte den Kampf mit dem Ungeziefer aufgegeben. Ein Idyll für die freie Natur. Jeder wurde satt hier, außerdem Gärtner.

           Im Spätherbst beobachteten sie die Amseln, wie sie nach versteckten Schneckeneiern suchten, die vorwiegend unter Unterbrettern und zerbrochenen Blumentöpfen lagen. Obwohl die Amseln bei ihrer Suche nach diesen Leckerbissen sehr gewissenhaft vorgingen, fanden sie bei weitem nicht alle Eier.  Die Schneckenplage ist damit vorprogrammiert und wird sich im kommenden Jahr wie üblich, fortsetzen. Darüber werden sich der Igel, aber auch größere Vögel freuen.

         Der Igel hat durch seine Stacheln keine natürlichen Feinde. Er gilt übrigens als älteste Säugetier der Welt. Die Igelmutter versorgt ihre Jungen gute drei Wochen lang. Tagsüber werden sie gesäugt und bewacht, in der Nacht geht sie auf Futtersuche. Die jungen Tiere brauchen aber weitere drei Wochen, um sich selbstständig ernähren zu können. Auf ihrem Speiseplan stehen Regenwürmer, Käfer, und Schnecken. Da sich in diesem Garten die Schnecken ungehindert vermehren konnten, seit der Gärtner aufgegeben hatte. Inzwischen lebten vier Igelpärchen hier. Sie vertrugen sich miteinander, weil sie alle gut satt wurden.

         Die Kaninchen dagegen hatten oft Streit miteinander. Das war besonders der Fall, wenn einer als Aufpasser abkommandiert wurde, er aber seine Aufgabe nicht ernst genug nahm. Denn wenn ein Raubtier zu sehen war, musste er mit seinen Hinterläufen ordentlich auf den Boden klopfen und so seine Kumpels warnen. Die kleinen Kaninchen entfernten sich nie weiter als 200 m von ihren Eingängen. Hörten sie das Klopfen flitzten sie schnell in ihre Schlupflöcher. Trotzdem kam es immer wieder vor, dass sowohl die Eule als auch der Fuchs sich einen von ihnen schnappte. Sie wurden danach nie wieder gesehen. Trotzdem wurde es immer enger im Bau, weil die Hasenmama sehr viele Junge bekam. Deshalb litten sie im Winter oft bittere Not. Da Hasen keinen Vorrat sammeln, müssen sie im Winter auf Heckenzweige und Gemüsereste zurückgreifen. Solange kein Schnee liegt, finden Sie noch Löwenzahn andere winterfeste Kräuter.

       Der Rabe war Gott dankbar für seine Flügel, weil er dadurch ein großes Revier nach Futter absuchen konnte. Mit dieser Erkenntnis hockte er sich auf die Birke und pflegte ausgiebig seine Flügel- und die Schwanzfedern. Jede einzelne nahm er sich vor, zog sie sich durch den Schnabel und fettete sie anschließend ein. Auch er hatte, wie alle Vögel, eine sogenannte Bürzeldrüse unter seinem Schwanzansatz. Er hatte also sein Fetttöpfchen ständig dabei, was sehr praktisch ist. Eines Tages waren sie mit ihrer Inspektion fertig. Sie hatten so gut wie alle Tiere, mit denen sie im vergangenen Sommer Kontakt hatten besucht. Sie fanden nach längerem Suchen auch die Rabenschaar, in der ihre unverheirateten Rabenkinder Aufnahme gefunden hatten, es ging ihnen gut. Zufrieden mit sich und der Welt beschlossen Jakob und Frau Abee, den Winter im Garten der Familie Y zu verbringen. Von der großen Reise war keine Rede mehr.

 Ende Kapitel 9, Die Aufzucht und der Herbst danach

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